Es ist viel passiert
Ich hol’ Dich heute Abend wieder ab.“ Das hatte meine Mama fest versprochen und mir dabei eindringlich in die Augen geschaut. Ich stand an der Beifahrertür unseres Autos und hatte einen kleinen Kinderkoffer in der Hand. Dann fuhr sie davon – und ist nie wieder aufgetaucht.
In diesem Moment ist sie aus meinem Leben verschwunden, einfach so. Obwohl ich sie vorher noch gefragt hatte. „Holst Du mich auch wirklich wieder?“ Sie hatte es mir scheinbar so fest versprochen: „Ja, wirklich.“ So stand ich da, vor diesem Kinderheim in Diemerstein bei Kaiserslautern, in das ich an diesem Tag eingezogen bin.
Es ist die erste Szene meines Lebens, an die ich mich wirklich erinnern kann. Ich war vier Jahre alt.
Das Heim war in der Nähe von Kaiserslautern, ungefähr 20 Kilometer entfernt. Ich kam aus Weinheim an der Bergstraße, das liegt zwischen Mannheim und Heidelberg. An meine Kindheit in Weinheim habe ich aber keinerlei Erinnerung. Vielleicht ist das eine Schutzfunktion des Körpers, dass er so etwas ausblendet. Für mich beginnt mein Leben mit dem Kinderheim. Es ist etwas, das ich bis heute bedauere. Viel weiß ich auch von dem Kinderheim nicht mehr. Ich erinnere mich nur an einzelne Szenen und Bilder.
Das Heim lag ein bisschen abseits von der Hauptstraße, mitten im Wald. Von außen hat es keinen so schlimmen Eindruck gemacht. Es gab verschiedene Häuserblocks, vier oder fünf, die aussahen wie Appartementhäuser. Davor war ein großer Spielplatz, dahinter einzelne Wohnblöcke. Treppenhaus, Speisesaal, Kinderzimmer, drei oder vier Stockwerke hoch. In den Zimmernstanden Gitterbetten, in denen haben wir geschlafen. Es war ständig was los, jeden Mucks von den anderen hat man gehört. Es war eigentlich immer laut.
An den Lärmpegel hatte ich mich aber ziemlich schnell gewöhnt. Immerhin hatte ich ja im Hinterkopf, dass es nur ein vorübergehender Aufenthalt werden würde. Aus heutiger Sicht klingt das vielleicht komisch, aber ich war lange Zeit wirklich felsenfest davon überzeugt, dass meine Mama mich wieder abholt. Das war die Hoffnung, an die ich mich klammerte, die ich eigentlich nie aufgegeben habe.
An meinem ersten Abend im Heim durfte ich lang aufbleiben, das weiß ich noch. Es war ein sehr warmer Tag gewesen, ich stand auf dem Balkon. Neben mir stand eine Frau, die sich mit mir unterhalten hat. Meine Schwester, die zugleich mit mir im Heim abgegeben worden war, muss zu dieser Zeit schon im Bett gewesen sein. Die Frau sprach ganz normal mit mir, sie wollte mir wohl die Angst nehmen.
Am Anfang waren alle sehr nett zu mir und meiner Schwester. Das änderte sich aber sehr schnell, später gab es für jede Kleinigkeit Dresche. Wenn einer gebrüllt hat, „Ich will heim!“, wurde ihm der Hintern versohlt. In meiner Erinnerung hat das meistens ein Erzieher mit Vollbart übernommen, so ein großer Kerl, vor dem sich alle Kinder gefürchtet haben, weil er uns so riesig vorkam. Es gab natürlich auch nette Menschen dort, die herzlich waren, daneben gab es aber auch richtige Hexen – ganz egal, ob das jetzt Schwestern waren oder normale Frauen, das hat keinen Unterschied gemacht.
Das Verhältnis zu den anderen Kindern war zunächst angespannt, hat sich aber schnell eingespielt. Mein Gedanke war: „Prima, jetzt habe ich viele Kinder, mit denen ich spielen kann.“ Die haben das anders gesehen und zunächst ihr Revier verteidigt: „Das ist mein Spielzeug, meine Schaufel, das ist meine Freundin, das ist mein Bett, das ist mein Zimmer, das ist meine Erzieherin.“
Dadurch, dass ich mit meiner leiblichen Schwester dort war, war es noch ein bisschen schwieriger, weil wir beide natürlich zusammengehalten haben. So wurden wir als Geschwisterpaar ausgegrenzt. Wir waren gemeinsam einsam. Das hat meine Schwester und mich nur noch mehr zusammen geschweißt.
Es gibt eine Situation, an die erinnere ich mich noch sehr genau, ein ganz schreckliches Erlebnis, das mir eine totale Blockade vor Grießbrei und Pudding beschert hat. Ich mochte das Dessert nicht, daher spuckte ich es angeekelt wieder aus. Die goldene Regel in dem Heim lautete aber: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt! Immer! Ich wurde unter sehr vielen dicken Tränen gezwungen, das Zeugs zu schlucken – selbst den Teil, den ich zuvor ausgespuckt hatte! Ich mag Grießbrei bis heute nicht. Milchreis kann ich mittlerweile essen, aber ich habe Jahre gebraucht, bis ich mich mal an ein Mousse au Chocolat gewagt habe. Schon das Aussehen und die Konsistenz weckten die Erinnerung an den Esszwang im Heim. Oder die flachen Schälchen, in denen das meist serviert wird. Grausam, ich hatte echt Panik vor diesen Schüsselchen.
Innerhalb der wenigen Erinnerungen an das Heim gibt es auch schöne Momente. Es war nicht alles grausig da drin. Zwar wurden wir schon sehr streng gehalten, bei weitem nicht so liebevoll, wie man heute in den SOS-Kinderdörfern mit Kindern umgeht, aber es war auch nicht der Vorhof zur Hölle. Es gab eine Frau, die immer eine Kittelschürze anhatte, eine Art Hauskleid, das unsere Omas heute noch tragen. Die war sehr nett zu mir. Sie hat mir beispielsweise immer beim Anziehen geholfen. Die intensivste Erinnerung an das Heim bleibt aber dieser Grobian, dieser große dunkle Mann mit dem Vollbart, der nachts, wenn man nicht schlafen konnte und geweint hat, nur mit Gewalt reagieren konnte.
Eines Tages kam ein Ehepaar in das Kinderheim. Sie müssen meine Schwester und mich gesehen haben, als wir Hand in Hand die Straße runter kamen. Später haben sie immer erzählt, diese Szene sei der Grund gewesen, gerade uns auszuwählen. Wir wurden einander vorgestellt.
In den folgenden Wochen kamen die beiden sehr oft, um uns zu besuchen. Dabei haben sie immer betont, wie sehr sie sich freuen würden, dass sie uns kennen. Bei jedem Besuch gab es Geschenke. Einmal, das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen, gab es zu Weihnachten eine sensationell große Tüte, durchsichtig und mit ganz vielen Sachen drin. Unter anderem war ein Ball dabei und ein kleines Dreirad aus Plastik oder Holz, das weiß ich nicht mehr genau. Das war mal ein Geschenk! Mit dem Dreirad bin ich stolz durchs ganze Haus gezogen und habe angegeben: „Schaut her, was ich bekommen habe! Das habt ihr nicht!“ Dazu hat es Lob von den Erwachsenen gegeben: „Das ist aber toll, was Du da bekommen hast. Das müssen aber sehr liebe Menschen, die Dir so etwas fabelhaftes schenken.“
Nach einer Weile durften meine zukünftigen Adoptiveltern uns hin und wieder mit zu sich nach Hause nehmen. Sie wohnten damals in einem dreistöckigen Haus mit Garten und Terrasse. Das Erdgeschoss war das Refugium der Oma, im ersten und im zweiten Stock haben sie gelebt. Ein Zimmer haben sie mir besonders eindringlich gezeigt und gesagt: „Hier kannst du schlafen, wenn du bei uns bist.“
Das Verhältnis zwischen meinen Adoptiveltern und uns Kindern wurde langsam aufgebaut. Im Nachhinein kann ich gar nicht mehr sagen, wie lange dieses Herantasten dauerte. Ich wusste damals ja nicht, was da passiert. Ich merkte nur, dass ich mich von meiner leiblichen Mutter entferne, wenn ich aus dem Heim ausziehe. Ich war überzeugt, sie würde mich bei den Adoptiveltern nicht finden können. Daher sträubte mich gegen den Umzug, natürlich ohne Erfolg. Als Kind wird man nicht gefragt, ob es einem recht ist, in eine neue Familie zu kommen. Ich hatte keine Chance. Ich musste mich fügen, ob es mir nun passte oder nicht.
In der ersten Zeit in meinem neuen Zuhause haben sich alle sehr um mich und meine Schwester bemüht. Wir wurden von allen Seiten mit Geschenken überschüttet, mit ganz viel Liebe bedacht. Alle Bekannten und Verwandten haben uns aufgenommen und auf ihre Weise versucht, uns spüren zu lassen, dass wir jetzt eine neue Familie haben. Trotzdem fehlte da etwas. Instinktiv merkte ich schon als Kind, dass wir nicht dazugehören. Die Verwandten und Bekannten waren zwar alle ganz nett, insgeheim aber haben sie uns argwöhnisch beobachtet nach dem Motto: „Das also sind die Kinder aus dem Heim.“
Das ist mir damals schon aufgefallen, weil ich immer nach allen Seiten meine Sensoren ausgerichtet hatte. Aus lauter Angst, etwas zu übersehen, meine Mama vielleicht zu übersehen. Und aus Angst, wieder alleine gelassen zu werden. Diese Menschen haben zwar nicht offen über einen geredet, sondern hinter vorgehaltener Hand, aber Kinder merken das. Ich schnappte Satzfetzen auf wie „Ah ja, ist doch gar nicht so schlimm“ oder: „Erstaunlich, wie wild die werden können! Macht wohl das Heim und die kaputte Beziehung der Eltern!“ Daraus konnte ich mir natürlich keinen Reim machen. Mir war aber sehr wohl klar, dass sie mich meinten. Sie gaben mir mit ihrem Verhalten das Gefühl anders zu sein, als andere Kinder.
Sie haben mir nicht vertraut. Deshalb habe ich ihnen auch nie wirklich vertraut. Ich weiß noch, wie mich mein Adoptiv-Vater einmal am Esstisch auf den Schoß nahm, mir einen Kuss auf die Backe drückte und sagte: „Da darfst jetzt Papa zu mir sagen!“ Vorher hieß er nur „Du“ für mich, das war ihm vermutlich auf die Nerven gegangen. Wahrscheinlich hat er mir deshalb das „Papa-Sagen“ anerzogen.
Das war mir überaus unangenehm, weil ich ihn nicht als Vater empfand. Damals schon nicht. Im großen und ganzen kann ich über die Anfangstage in meiner neuen Familie aber trotzdem nichts negatives sagen. Das später schwierige Verhältnis entwickelte sich erst über die Zeit. Am Anfang haben meine Adoptiveltern sich Mühe gegeben, uns zu fördern und uns ein schönes Zuhause zu bieten. Dass es letztlich nicht funktioniert hat, lag meines Erachtens an der Ungeduld meines Adoptiv-Vaters.